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Syrien

Syrien: Ärzte ohne Grenzen verurteilt unmenschliche Zustände im Lager al-Hol

Amsterdam/Al-Hol, 7. November 2022. Ärzte ohne Grenzen kritisiert die unerträglichen Lebensbedingungen für die Menschen im syrischen Geflüchtetenlager al-Hol. Die vielen inhaftierten Kinder sind besonders stark Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert und haben kaum Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, wie aus einem aktuellen Bericht der Nothilfeorganisation mit dem Titel „Between two fires: danger and desperation in Syria’s al-Hol camp” hervorgeht. Allein im vergangenen Jahr sind 79 Kinder in dem Lager ums Leben gekommen.  

Das Lager al-Hol war einst dazu gedacht, Zivilist*innen, die durch die Konflikte in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und Zugang zu humanitärer Hilfe zu bieten. Mittlerweile hat sich al-Hol jedoch zu einer Art Freiluftgefängnis entwickelt. Gerade für Kinder, die die Mehrheit der Lagerbewohner*innen ausmachen, sind die Bedingungen untragbar. 35 Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahr im Lager starben, waren Kinder unter 16 Jahren. Die häufigste Todesursache (38 Prozent) in al-Hol ist der Tod in Folge von Verbrechen. Zusätzlich zu den insgesamt 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen wurden im Lager 2021 auch 30 Mordversuche gemeldet. 

Neben den Gefahren des Lagers gibt es viele Berichte über Jungen im Teenageralter, die im sogenannten Annex für ausländische Lagerbewohner*innen gewaltsam von ihren Müttern oder anderen Bezugspersonen getrennt wurden. Es gibt kaum Informationen darüber, wohin sie gebracht wurden oder was mit ihnen geschehen ist. „Wir haben viele tragische Geschichten aus dem Gefangenenlager al-Hol in Syrien gehört und gesehen. Dazu gehört der Tod von Kindern, weil der Zugang zu dringender medizinischer Versorgung zu lange hinausgezögert wird. Aber auch die gewaltsame Trennung von Jungen und ihren Müttern erleben wir immer wieder“, sagt Martine Flokstra, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen für Syrien. 

Im Februar 2021 wurde etwa ein siebenjähriger Junge mit Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht und an den Armen in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen in al-Hol eingeliefert. Eine größere Klinik, in der eine lebensrettende medizinische Versorgung möglich gewesen wäre, war nur eine Autostunde entfernt. Stattdessen dauerte es zwei Tage, bis die Lagerverwaltung seine Verlegung genehmigte. Auf dem Weg in das Krankenhaus starb er. Im Mai desselben Jahres wurde ein fünfjähriger Junge, der von einem Lastwagen angefahren wurde, in dasselbe kleine Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen eingeliefert. Das Team vor Ort empfahl, ihn für eine Notoperation in ein anderes Krankenhaus zu überweisen. Trotz der Dringlichkeit dauerte es Stunden, bis seine Verlegung genehmigt wurde. Auch er starb auf dem Weg ins Krankenhaus, bewusstlos und allein.  

In al-Hol werden Menschen systematisch ihrer Rechte beraubt und sind dauerhaft Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt.  Man geht davon aus, dass die Menschen in al-Hol und anderen damit verbundenen Gefangenenlagern in Syrien aus rund 60 verschiedenen Ländern kommen, darunter aus dem Vereinigten Königreich, aus Australien, China, Spanien, Frankreich, der Schweiz, Tadschikistan, der Türkei, Schweden und Malaysia. Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtbevölkerung des Lagers derzeit auf etwa 53.000 Personen, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind, die in einem abgetrennten Teil des Lagers, dem „Annex“, untergebracht sind. 

„Die Mitglieder der Anti-IS-Koalition sowie andere Länder, deren Staatsangehörige in al-Hol und anderen Gefängnissen und Lagern im Nordosten Syriens festgehalten werden, haben ihre Bürger im Stich gelassen. Sie müssen Verantwortung übernehmen und alternative Lösungen für die im Lager festgehaltenen Menschen finden. Stattdessen haben sie die Rückführung ihrer Bürger*innen verzögert oder einfach verweigert. In einigen Fällen sind sie sogar so weit gegangen, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie damit staatenlos zu machen“, sagt Flokstra. „Trotz der unsicheren Bedingungen in al-Hol und den drei Jahren, die vergangen sind, seit mehr als 50.000 Menschen in das Lager gebracht wurden, wurden keine ausreichenden Fortschritte bei der Schließung des Lagers gemacht. Je länger die Menschen in al-Hol festgehalten werden, desto schlimmer wird es. Eine weitere Generation ist dann der Ausbeutung ausgeliefert und hat keine Aussicht auf eine Kindheit ohne Gewalt.“ 

 Als zweitgrößter Geber im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition in Nordost-Syrien sollte die deutsche Bundesregierung die notwendige langfristige Lösung voranbringen, damit die willkürliche Inhaftierung aller Menschen in al-Hol und anderen Lagern in Nordost-Syrien ein Ende findet. Auch ist es die Verantwortung der Länder innerhalb der Anti-IS-Koalition gegenüber lokalen Behörden und Sicherheitskräften, die mit ausländischen Geldern das al-Hol-Camp betreiben, durchzusetzen, dass diese die Sicherheit, Unversehrtheit und angemessene humanitäre Versorgung der inhaftierten Menschen gewährleisten. Ärzte ohne Grenzen erwartet von Deutschland wie von allen anderen humanitären Gebern in Nordost-Syrien deutlich mehr unabhängige humanitäre Hilfe in der Region und speziell im Camp al-Hol, um den massiven Bedarfen zu entsprechen. All dies bietet Deutschland eine Chance, das eigene Bekenntnis einer Vorreiterrolle im Nordosten Syriens unter Beweis zu stellen.    

Nach elf Jahren Krieg sind 14,6 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mit einer Zahl von 6,9 Millionen gibt es in dem Land die meisten Binnenvertriebenen weltweit – ein Großteil davon sind Frauen und Kinder. Viele wurden mehrfach vertrieben und leben in prekären Verhältnissen. Ärzte ohne Grenzen leistet in Syrien Hilfe, wo immer es möglich ist, Zugangsbeschränkungen und anhaltende Unsicherheit machen dies jedoch teils sehr schwierig. Die Anträge auf Erlaubnis, in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zu arbeiten, wurden mehrfach abgelehnt. Im Nordwesten und Nordosten Syriens betreibt und unterstützt Ärzte ohne Grenzen aber Krankenhäuser und Gesundheitszentren und bietet eine medizinische Versorgung durch mobile Kliniken an.  

Den vollständigen Report finden Sie hier. 

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Portrait: Katharina Wiechers
Katharina Wiechers
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