Europa riegelt seine Grenzen ab. Die Verantwortung für das „Migrationsmanagement“ wird zunehmend in Länder außerhalb der Europäischen Union ausgelagert, beispielsweise in den Niger oder die Türkei. Die Konsequenz: Menschen auf der Flucht haben heute kaum noch eine Möglichkeit, in der Europäischen Union den Schutz zu suchen, der ihnen völkerrechtlich zusteht.
Die europäischen Staaten reagieren damit auf eine politische Krise innerhalb Europas, die in der öffentlichen Debatte jedoch als „Flüchtlingskrise“ wahrgenommen wird und die seit 2015 die Diskussionen über Flucht und Migration in Europa prägt.
Mit einem Blick auf die Fluchtbewegungen weltweit wird dabei schnell klar: Hier gilt es dringend etwas in Perspektive zu setzen, denn Europa spielt im Kontext der weltweiten Fluchtbewegungen nur eine untergeordnete Rolle. So waren 2018 weltweit mehr als 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, Konflikten, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Die allermeisten von ihnen sind Binnenvertriebene, und 80 Prozent der Geflüchteten leben in den Nachbarländern ihrer Heimatstaaten.
Das Schicksal der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, steht nicht im Fokus der europäischen Flüchtlingspolitik. Stattdessen bildet der Versuch, die Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern, den Kern der politischen Bemühungen. Die katastrophalen humanitären Auswirkungen dieser Politik bleiben für die europäische und deutsche Öffentlichkeit allerdings unsichtbar. Das Leid und die Ohnmacht der Betroffenen bleibt verborgen in den Internierungslagern Libyens, abgezäunt auf den griechischen Inseln, vergessen in der Wüste Nigers oder in einem der riesigen Flüchtlingslager weltweit.
Auf unserem Weg haben wir eine Tragödie durchlebt, die schlimmer ist als der Krieg selbst. Die Tragödie, ein Geflüchteter zu sein. All die gefährlichen Stationen der Flucht zu durchleben und kein Land zu finden, das dich willkommen heißt.
Ein Mann an Bord unseres Rettungsschiffes Bourbon Argos
Ärzte ohne Grenzen behandelt und versorgt weltweit Menschen, die in der europäischen Debatte über Flucht und Vertreibung nicht vorkommen. Denn wir leisten seit mehr als 40 Jahren medizinische humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht. Dabei begegnen wir Menschen an den unterschiedlichsten Stationen ihres Weges, vom Herkunftsland bis zur letzten Etappe ihrer Suche nach Sicherheit.
Darunter sind Vertriebene, die in der Zentralafrikanischen Republik oder im Südsudan vor extremer Gewalt fliehen, und Männer, Frauen und Kinder, die wegen des gewaltsamen Konflikts in Nigeria auf der Flucht sind. Wir sehen Menschen, die unter menschenunwürdigen Zuständen in den Internierungslagern Libyens festsitzen und dem Kugelhagel des Bürgerkriegs ausgesetzt sind, oder Schutzsuchende aus Syrien, die in einem der Flüchtlingslager im Libanon und an vielen anderen Orten ausharren. Wir begegnen Männern, Frauen und Kindern, die auf ihrer Flucht vor den Außengrenzen der EU oder der USA gestrandet sind, und dort unter extrem schwierigen Bedingungen leben, und Menschen, die wir auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken retten.
Dabei ist eines ganz klar: Ob die südsudanesischen Geflüchteten in Uganda und Äthiopien, die Vertriebenen in Kameruns Nord- und Südwesten, die Venezuelaner*innen, die nach Kolumbien fliehen oder die schutzsuchenden Rohingya in Bangladesch oder Malaysia - nur die allerwenigsten von ihnen fliehen nach Europa oder überqueren überhaupt Landesgrenzen. Ihr Schicksal wird uns nicht erreichen, frei nach dem Motto, aus den Augen aus dem Sinn.
Wir haben gelernt, auf die Geräusche von Autos und Panzern zu achten, und dann zu packen, was wir konnten und wegzurennen. Die bewaffneten Männer schossen auf uns und plünderten unsere Häuser. Ich lief mit meinen Zwillingen auf dem Arm, während meine vierjährige Tochter neben mir herrennen musste.
Eine Patientin aus dem Südsudan
Wir sehen hin: Ärzte ohne Grenzen behandelt die physischen und psychischen Folgen der Flucht, mit denen die Menschen oft völlig allein gelassen werden. Wir sehen, dass Menschen auf der Flucht häufig unter extrem schwierigen, oft lebensbedrohlichen Bedingungen leben müssen.
Über die Fluchtroute haben sie wenig oder keine Kontrolle: Grenzen werden geschlossen, sie werden in Internierungslagern festgehalten oder sitzen fest, weil um sie herum die Gewalt eskaliert oder weil sie nicht die Mittel oder die Kraft haben, zu fliehen.
Die Lebensumstände auf der Flucht machen die Menschen besonders verwundbar – besonders, wenn sie bereits unter Vorerkrankungen wie Tuberkulose oder Malaria leiden. Überfüllte, oft abgeriegelte Flüchtlingslager mit mangelnden Hygienebedingungen und eingeschränkter medizinischer Versorgung sind nicht nur angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie ein Nährboden für die Ausbreitung lebensgefährlicher Krankheiten. Trifft ein solches Virus auf Vertriebenenlager mit teils hunderttausenden Schutzsuchenden und ein schwaches Gesundheitssystem, lassen sich die Folgen nur erahnen. Viele Menschen haben darüber hinaus keinen Zugang mehr zu ihren Unterstützungsnetzwerken, weil sie Freunde und Familie verloren haben oder zurücklassen mussten: So sind sie auf allen Etappen der Flucht der Gefahr von Entführungen, (sexualisierter) Gewalt, Ausbeutung, Willkür und Misshandlungen ausgesetzt. Dies gilt insbesondere für Frauen, Kinder, ältere Menschen, traumatisierte Menschen und Menschen mit Behinderungen.
Die Folgen für Körper und Seele sind vielfältig. Und viele der Krankheiten, die unsere Teams bei Schutzsuchenden weltweit behandeln, hängen direkt mit den Lebensumständen der Flucht zusammen. Das müsste nicht so sein.
Das Leben hier im Lager fühlt sich so an, als wäre man im Gefängnis. Wie eine Form des Selbstmords. Ich habe immerzu Angst.
Ein syrischer Patient in einem Flüchtlingslager auf Samos, Griechenland
Auf den folgenden Seiten wollen wir daran erinnern, dass Menschen auf der Flucht schlicht eines sind - Menschen. Menschen mit individuellen Schicksalen, (Flucht-) Erfahrungen und Bedürfnissen, die in der öffentlichen Debatte über Flucht und Migration in Deutschland und Europa nicht wahrgenommen werden. Daran wollen wir etwas ändern. Wir wollen auf der Basis unserer jahrelangen Erfahrung zeigen, wo politischer Handlungsbedarf besteht. Denn hier ist die Staatengemeinschaft in der Verantwortung – und Europa ist gefordert, das menschliche Leid direkt vor seiner Haustür nicht nur zu lindern, sondern zu beenden.
Was wir in Europa und weltweit sehen, ist keine „Flüchtlingskrise“, sondern eine Solidaritätskrise. In der Debatte über Flucht und Migration geht allzu oft der Blick für den einzelnen Menschen und dessen individuelle Geschichte verloren. Flucht und Migration werden zunehmend kriminalisiert. Die spezifischen Schutzbedürfnisse von Migrant*innen und Geflüchteten werden ignoriert und ihre Rechte durch eine restriktive Politik zusehends ausgehöhlt. Das ist gleichermaßen beschämend für die deutsche Bundesregierung wie für die internationale Staatengemeinschaft. Was wir brauchen, sind sichere und legale Flucht- und Migrationswege, die den spezifischen Schutzbedürfnissen und Rechten der Menschen Rechnung tragen und sie vor Tod, Krankheit, Gewalt, Ausbeutung und Misshandlung schützen“, sagt Florian Westphal, ehemaliger Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland.
Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland
Ärzte ohne Grenzen leistet als medizinische Hilfsorganisation Nothilfe, wenn in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen das Leben vieler Menschen bedroht ist. Zu den Prinzipien gehört, allen Opfern Hilfe zu gewähren, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen und religiösen Überzeugungen. 2018 umfasste unsere medizinische Nothilfe beispielswiese mehr als 11,2 Millionen ambulante Konsultationen, über 758.000 Patienten und Patientinnen wurden stationär aufgenommen und 309.500 Frauen bei der Geburt unterstützt. Wir haben im Jahr 2018 u.a. mehr als 74.000 schwer mangelernährte Kinder behandelt und 404.000 psychologische Einzelkonsultationen abgehalten. Ärzte ohne Grenzen ist eine unabhängige, neutrale und unparteiliche Hilfsorganisation und arbeitet frei von bürokratischen Zwängen. Um die Unabhängigkeit unserer medizinischen Nothilfe zu bewahren, finanziert sich Ärzte ohne Grenzen überwiegend aus privaten Spenden. Zu unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehören Ärzte und Pflegekräfte, aber auch Vertreter zahlreicher anderer Berufe. Als medizinische Hilfsorganisation leisten wir in rund 70 Ländern Nothilfe.
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