Geflüchtete und Migrant*innen erfahren in Libyen unvorstellbares Leid. Eingesperrt und vergessen in einem der offiziellen oder inoffiziellen Internierungslager des Landes, sind sie extremer Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt. Dazu zählen Vergewaltigung und Zwangsarbeit. Das Essen ist schlecht und bleibt manchmal tagelang ganz aus, Hygiene ist kaum möglich.
Ärzte ohne Grenzen leistet seit 2016 medizinische Hilfe für Menschen, die in einigen der offiziellen Lager festgehalten werden oder sich befreien konnten. Unsere Teams sehen die vernarbten und gebrochenen Körper der Überlebenden und hören schreckliche Geschichten von täglichen Schlägen oder von brennendem Plastik, das auf die Haut gegossen wird. Wir begegnen Männern, Frauen und Kindern, deren Leid wir mit medizinischer Hilfe allein kaum lindern können.
Trotzdem steht das Schicksal der Menschen nicht im Fokus der europäischen oder deutschen Politik. Diese setzt weiterhin auf Abschottung und wird dadurch zur Komplizin eines ausbeuterischen und menschenverachtenden Systems. Es gibt keine staatliche Seenotrettung mehr – stattdessen unterstützen die europäischen Staaten die libysche Küstenwache und nehmen billigend in Kauf, dass Menschen genau an den Ort zurückgebracht werden, von dem sie fliehen. Wir sehen, dass die zurück gebrachten Menschen oft unter Schock stehen, weil sie beinahe erfroren oder ertrunken wären und, zurück in Libyen, keine Sicherheit finden. Trotz allem ist der Weg über das Mittelmeer oft die einzige Möglichkeit, diesem Schrecken aus eigener Kraft zu entkommen.
In dem Moment, in dem ich Libyen betreten habe, wurde ich in Geiselhaft genommen. Sie schlagen dich mit der Rückseite ihrer Gewehre. Sie binden deine Hände und Beine zusammen und legen dich auf den Bauch, manchmal für mehrere Tage. Tagsüber brennt die Sonne auf dich herab und nachts ist dir eiskalt. Du hast nichts zu essen.
Ein junger Mann aus Eritrea an Bord des Rettungsschiffes Aquarius
Libyen ist heute ein tief gespaltenes Bürgerkriegsland. Eine Infrastruktur zum Schutz von Geflüchteten und Migrant*innen gibt es nicht. Im Gegenteil: Immer wieder sitzen Schutzsuchende in Internierungslagern in der Falle, wenn diese bei Luftangriffen beschossen werden – wie im Juli 2019, als mindestens 53 Menschen im Tadschura getötet wurden.
Unsere Teams versorgen Männer, Frauen und Kinder, die willkürlich interniert wurden, die vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten sind und die auch nach monatelanger Gefangenschaft nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Oft werden Patient*innen über Nacht an unbekannte Orte verlegt, andere verschwinden einfach – spurlos. Und die Bedingungen in den unzähligen inoffiziellen Lagern des Landes können wir nur erahnen, denn unsere Teams dürfen sie nicht betreten. Daraus entflohene Patient*innen erzählen von unvorstellbarer Gewalt, von Toten, von Entführung und Erpressung. Die Folgen für Körper und Seele sind fatal.
Einige der offiziellen Internierungslager wurden in den letzten Monaten kurzerhand aufgelöst, ohne den dort festgehaltenen Menschen auch nur das Minimum an Schutz für die Zeit danach zu gewähren. Ihr Schicksal lässt sich kaum nachverfolgen. Auf der Straße und inmitten des anhaltenden Bürgerkriegs, ohne Unterkunft, medizinische Versorgung und Nahrung sind sie weiterer Gewalt und Menschenhändlern ausgeliefert.
In fast zwei Wochen habe ich Opfer sexueller Gewalt gesehen und Menschen behandelt, die brutal misshandelt, mit Stromschlägen und geschmolzenem Plastik gefoltert wurden und kriegsbedingte Wunden erlitten haben. Ein Drittel meiner Patient*innen sind Kinder unter 18 Jahren. Sie alle haben auf ihrer Flucht unerträgliches Leid erlebt, bevor sie gerettet wurden.
Dr. Luca Pigozzi, Arzt an Bord der Ocean Viking
Die Lager, zu denen wir Zugang haben, sind regelmäßig gefährlich überfüllt und verfügen häufig weder über natürliches Licht noch über ausreichend Belüftung. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Daher lassen sich die meisten der psychischen und physischen Beschwerden unserer Patient*innen direkt auf diese Lebensumstände zurückführen – zum Beispiel, wenn es Todesfälle durch vermeidbare Krankheiten wie Tuberkulose gibt.
Wir begegnen Frauen, die als Folge einer Vergewaltigung im Lager schwanger geworden sind, und wir behandeln Menschen, die Opfer der Kriegshandlungen geworden sind. Wir versorgen mangelernährte Männer und Frauen, und wir behandeln Menschen mit starken Gliederschmerzen, weil sie häufig auf kleinstem Raum ausharren mussten.
Geflüchtete und Migrant*innen sind diesen grausamen Bedingungen ausgeliefert. Sichere und legale Wege aus diesen Lagern gibt es nicht und Fluchtversuche können tödlich enden. So bleibt das Leid der Menschen allzu oft verborgen und sie selbst in einem Kreislauf von Gewalt gefangen, dem viele aus eigener Kraft nicht entrinnen können.
Wir wurden mit Rohren und Stöcken geschlagen. Sie benutzten auch Elektroschocks. Es gab viele Infektionen und keine medizinische Versorgung. Ich habe gesehen, wie ein Mann, der neben mir schlief, starb. Seine Arme und Beine waren zusammengebunden, eines Morgens fanden wir ihn tot auf.
Ein junger Mann aus Nigeria auf unserem Rettungsschiff Prudence
Die Ausweglosigkeit schutzbedürftiger Migrant*innen und Geflüchteter in Libyen – einem Land, das kein Minimum an Sicherheit garantieren kann – muss endlich ins Zentrum der europäischen und deutschen Flüchtlingspolitik gerückt werden. Und zu all denen, die interniert sind, kommen Hunderttausende Vertriebene, die in improvisierten Camps und auf den Straßen Libyens sich selbst überlassen sind, ohne Gesundheitsversorgung, ohne Zuflucht vor Gewalt und Entführungen. Der Schutz all dieser Menschen darf nicht einer Politik untergeordnet werden, die allein auf Abschottung setzt.
Daher fordern wir
Alle
Fakten im Überblick
Publikation
- Orte des Leidens. Einblicke in Libyens Internierungslager
Ärzte ohne Grenzen leistet als medizinische Hilfsorganisation Nothilfe, wenn in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen das Leben vieler Menschen bedroht ist. Zu den Prinzipien gehört, allen Opfern Hilfe zu gewähren, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen und religiösen Überzeugungen. 2018 umfasste unsere medizinische Nothilfe beispielswiese mehr als 11,2 Millionen ambulante Konsultationen, über 758.000 Patienten und Patientinnen wurden stationär aufgenommen und 309.500 Frauen bei der Geburt unterstützt. Wir haben im Jahr 2018 u.a. mehr als 74.000 schwer mangelernährte Kinder behandelt und 404.000 psychologische Einzelkonsultationen abgehalten. Ärzte ohne Grenzen ist eine unabhängige, neutrale und unparteiliche Hilfsorganisation und arbeitet frei von bürokratischen Zwängen. Um die Unabhängigkeit unserer medizinischen Nothilfe zu bewahren, finanziert sich Ärzte ohne Grenzen überwiegend aus privaten Spenden. Zu unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehören Ärzte und Pflegekräfte, aber auch Vertreter zahlreicher anderer Berufe. Als medizinische Hilfsorganisation leisten wir in rund 70 Ländern Nothilfe.
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