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“Dann begannen sie, uns nacheinander zu vergewaltigen”

Mehr als 10.000 Betroffene, die überwiegende Mehrheit von ihnen Frauen – fast 20 Prozent sind minderjährig. Hinter dieser Zahl verbergen sich persönliche Geschichten von Menschen, die sexualisierte Gewalt überlebt haben und in Gesundheitszentren in der Demokratischen Republik Kongo um Hilfe gebeten haben. Aufgrund der Stigmatisierung der Patient*innen geben diese Zahlen nicht das wahre Ausmaß des Problems wieder: 10.810 Menschen haben die Kraft gefunden, Hilfe zu suchen. Doch wie viele mehr sind betroffen und sehen sich gezwungen, weiter zu schweigen?  

 

Marie*, 20 Jahre alt, Nord-Kivu 

"Wir waren auf dem Weg zu den Feldern als uns einige Männer anhielten. Sie forderten die Männer auf, sich auf den Boden zu setzen. Sie befahlen: "Ihr Frauen geht in den Wald."  

Eine von uns schrie und wollte sich wehren. Aber sie fingen an, ihre Gewehre zu laden und sagten, sie würden uns töten, wenn wir uns weiter wehren würden. Dann begannen sie, uns nacheinander zu vergewaltigen. Bevor sie gingen, nahmen sie unsere Telefone mit.”  

Es passiert im Alltag

"In den meisten Fällen waren die Frauen auf dem Weg zur Arbeit auf den Felder und trafen auf bewaffnete Männer. Danach fällt es ihnen natürlich sehr schwer, den Mut aufzubringen, wieder am gleichen Ort arbeiten zu gehen. Nur so können sie aber ihren Lebensunterhalt verdienen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir neben ihrem körperlichen Zustand auch ihre mentale Gesundheit untersuchen", sagt Mama Jeanne, die die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes für die Überlebenden unterstreicht. Sie ist eine der ersten Personen, die die Überlebenden im Regionalkrankenhaus von Salamabila, im Nordosten des Landes, antreffen werden. Sie heißt eigentlich Jeanne Musaganwa Mwavita, ist seit über zehn Jahren Krankenschwester und auf reproduktive Gesundheit von Frauen spezialisiert.  

Der Kopf und die halbe Silhouette einer Frau von hinten.
Seit Mai 2017 bieten wir kostenlose medizinische Versorgung und psychologische Unterstützung für Überlebende sexualisierter Gewalt im Krankenhaus der Provinz Kananga an.
© MSF/Carl Theunis

Die große Mehrheit der Frauen, die eine Vergewaltigung überlebt haben, werden von ihren Ehemännern sowie ihren Familien verstoßen.

 Jahr für Jahr sind unsere Teams direkte Zeugen des Ausmaßes und der Auswirkungen sexualisierter Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo: "Sexualisierte Gewalt hat nicht nur medizinische Folgen. Es ist ein unsichtbarer Schmerz. Was mich zutiefst berührt, ist das Ausmaß der Gewalt, die unsere Patientinnen durchmachen. Das Ausmaß des Traumas, das nicht nur durch die Vergewaltigung selbst, sondern auch durch die Ablehnung des Opfers verursacht wird", erzählt Corneille Kangangila, unsere Spezialistin für mentale Gesundheit. 

Um trotz der Stigmatisierung mehr Menschen erreichen und unterstützen zu können, haben wir ein innovatives dezentrales Programm eingeführt: Unsere Teams, mit dem Schwerpunkt reproduktive Gesundheit, arbeiten direkt vor Ort in den einzelnen Gemeinden und können Betroffene besser identifizieren. Neben der öffentlichen Sensibilisierung für dieses große soziale Problem sind unsere Kolleg*innen darauf spezialisiert, in den ersten 72 Stunden nach der Gewalttat die notwendige erste Hilfe zu leisten. Mit der richtigen Behandlung können sexuell übertragbare Krankheiten sowie eine ungewollte Schwangerschaft vermieden werden.  

Eine junge Frau hinter einer Scheibe
Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, werden häufig stigmatisiert.
© MSF/Carl Theunis

Tiefgreifende Folgen  

Nach Angaben der Vereinten Nationen erhielt in der ersten Hälfte dieses Jahres schätzungsweise nur jede vierte Überlebende in der Demokratischen Republik Kongo medizinische Versorgung, fünf Prozent psychosoziale Unterstützung und nur 15 Prozent Rechtsbeistand[1]. 

Unser aktueller Bericht "Sexual Violence in the Democratic Republic of Congo" zeigt die tiefgreifenden Auswirkungen und Folgen der fehlenden Unterstützung im Alltag der Überlebenden. 

Während wir Überlebende so gut wie möglich medizinisch und psychologisch versorgen, erfordert das Phänomen eine viel stärkere öffentliche Reaktion in den Bereichen Gesundheit, Schutz und Recht. Der derzeitige Mangel an Unterstützung bedeutet, dass die Überlebenden "doppelt bestraft" werden. Wir fordern daher, die nationalen und internationalen Anstrengungen rasch zu verstärken, um den dringenden und langfristigen Bedürfnissen aller Betroffenen gerecht zu werden.  

Im Jahr 2020 unterstützten wir 10.810 Überlebende sexualisierter Gewalt in insgesamt 22 Projekten in der Demokratischen Republik Kongo. Von den unterstützten Personen waren 98 Prozent Frauen, und 62 Prozent suchten innerhalb der ersten 72 Stunden Hilfe. 
 
 

[1] United Nations, DRC (2020). "Humanitarian Coordinator calls for continued efforts to end gender-based violence".