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Mexiko: Der Körper hat ein Gedächtnis

Der Patient war mit wiederholten Schnitten am Arm und an der Hand gefoltert worden. Er konnte seine Hand dadurch nicht mehr richtig bewegen und musste operiert werden. Er steht unter Vollnarkose, aber als der Chirurg einen bestimmten Nerv berührt, wacht der Patient unvermittelt aus der Narkose auf und verteidigte sich gegen den Arzt und musste erneut betäubt werden, um die Operation vollenden zu können. 

Die traumatische Erfahrung der Folter hatte sich eingebrannt - der erlebte Schmerz machte die Betäubung an dieser Stelle wirkungslos. Der Körper hat ein Schmerz-Gedächtnis. 

Eine Viertelstunde rettet ein ganzes Leben 

Gustavo* floh aus El Salvador, als sein Leben bedroht war. Ihm gelang nur wenige Minuten bevor sein Haus angegriffen wurde die Flucht. Das rettete ihm das Leben, aber er musste seine Angehörigen zurücklassen. “Sie haben dort alles zerstört - die Wände meines Hauses sind übersäht mit Einschusslöchern, sie wollten mich umbringen", erzählt er. Gustavo schlug sich auf seiner Flucht durch Guatemala und nach Mexiko durch. 

Als ich nach Guatemala kam, wurde ich von den Grenzbehörden erpresst. Als ich nach Mexiko einreiste, wurde ich von der Polizei erpresst. Also schlief ich auf der Straße. Dort hat dann jemand versucht, mich zu vergewaltigen. Ich wurde diskriminiert, weil ich homosexuell bin und weil ich ein Migrant bin.

Unser ambulantes Zentrum für Überlebende von Folter und Gewalt, bekannt unter seiner spanischen Abkürzung CAI, in Mexiko-Stadt bietet spezialisierte Behandlung für Menschen an, die Folter oder extreme Gewalt, einschließlich Belästigung und sexualisierte Gewalt, überlebt haben.  

Viele der Patient*innen im CAI sind Migrant*innen oder Asylbewerber*innen, die eigentlich vor eben dieser Gewalt, Folter und Ausbeutung aus süd- und mittelamerikanischen Ländern fliehen. Teilweise haben sie aber auch noch viel längere Wege hinter sich und kommen aus der Karibik oder sogar vom afrikanischen Kontinent.

Auch Maria ist aus diesem Grund im CAI: Sie verließ ihre Heimat El Salvador, aufgrund eines Mordversuches – ihr wurde mit einem Baseball-Schläger auf den Kopf geschlagen. In Mexiko wollte sie sich und ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Doch auch hier hörte die Gewalt nicht auf: Sie überlebte eine Entführung und einen weiteren Angriff. Im Video berichtet sie von ihren Erlebnissen und wie sie versucht, damit umzugehen: 

 

Néstor Rubiano ist Psychologe und koordiniert das CAI. Im Jahr 2011 begann Ärzte ohne Grenzen mit der Migrationsbevölkerung zu arbeiten. Néstor erklärt: “Wir behandelten Menschen, die eine Art von Gewalt erlebt hatten, die unsere Teams zuvor nicht kannten. Es ist eine Gewalt mit Härte und mit Grausamkeit. Sie richtet sich nicht nur gegen Migrant*innen und Geflüchtete, die sich in der Regel bereits in einem verletzlichen Zustand befinden, sondern ganz verschiedene Gruppierungen wenden unheimliche Methoden an, um ihnen Schaden zuzufügen. Dadurch wird viel Schaden angerichtet.” 

Taten wie im Krieg 

Unsere Teams dokumentieren ein hohes Maß an Gewalt, Missbrauch und Misshandlung von Migrant*innen und Geflüchteten: in ihrer Heimat, entlang der Migrationsroute sowie in verschiedenen Regionen in Mexiko. “Es sind ähnliche Taten, wie im Krieg. Wir befinden uns hier aber nicht im Krieg”, erklärt Néstor Rubiano weiter.   

Er vergleicht Gewalt in einem “klassischen” Kriegskontext mit den Folterungen und der Gewalt in Mexiko: “In einem Kriegskontext sieht man am ehesten Menschen, die erschossen wurden, die Bombardierungen und Zerstörung erlebt haben oder diejenigen, die davor fliehen mussten und vertrieben wurden. Das ist die eine Art von Gewalt. Das, was wir hier sehen, ist eine zusätzliche Art von Gewalt. Sie ist strukturell und organisiert. Das kann zum Beispiel eine Person sein, die von Kriminellen entführt wird, der die Finger abgeschnitten werden und deren Hände tagelang und ohne Essen an einem Ort gefesselt bleiben. Vielleicht bringen sie sogar ein Familienmitglied der gefolterten Person mit, das seinerseits ebenfalls gefoltert wird, um sie weiter einzuschüchtern und das Leiden zu verlängern.  

Schwerwiegende langanhaltende Folgen werden zu oft übersehen 

Auch Alejandro* aus Peru wünscht sich, er könnte alles vergessen. Der 23-jährige musste aufgrund von Erpressung und Gewalt seine Heimat verlassen. Der Weg nach Mexiko war lang: Ecuador, Kolumbien, und dann die Durchquerung des Darién-Dschungels, um Panama zu erreichen. Es war eine siebentägige Tortur.  

Ich habe gehungert, bin gestürzt, habe Tote gesehen - Menschen, die den Weg nicht überlebt haben. Ich habe dreimal fast mein Leben verloren. Das erste Mal bin ich einen Abhang hinuntergestürzt. Ich dachte, ich würde sterben.

Alejandro berichtet, dass es ihm schwer fällt zu schlafen. “Ich gerate sehr leicht in Bedrängnis: Ich habe Angst vor Menschen, die laut mit mir reden. Ich habe Angst, allein zu sein, ich habe Angst vor der Dunkelheit. Ich habe Angst, auf die Straße zu gehen”, sagt er.   

Wir versuchen Würde und Hoffnung wiederherzustellen 

“Überlebenden von Folter und Gewalt können unterschiedliche Aspekte im Heilungsprozess helfen. Medizinische Versorgung ist wichtig, sollte jedoch durch andere wichtige Bereiche wie Schutz, Ernährung, Unterkunft und soziale Integration ergänzt werden,” sagt Néstor. “Wir arbeiten im CAI daher mit einem ganzheitlichen Ansatz”, erklärt er weiter. 

Unsere Teams konzentrieren sich vornehmlich auf die medizinische Komponente und damit auf die Betreuung durch Psychiater*innen, Psycholog*innen aber auch Physiotherapeut*innen. Sie bieten zum Beispiel Kunsttherapie oder auch Fotokurse an. Außerdem vermitteln wir in Zusammenarbeit mit mexikanischen Gesundheitsnetzen Patient*innen mir komplexen Verletzungen an spezialisierte Krankenhäuser. 

Nestor erklärt abschließend: “Unser Ziel ist es, Traumata und Schmerzen so weit wie möglich zu lindern und die Betroffenen dahingehend zu stärken, dass sie ein unabhängiges Leben führen können. Wir unterstützen sie dabei, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ihnen widerfahren ist und was einfach nicht vergessen werden kann. Man muss lernen, mit dem zu leben, was geschehen ist. Aber da ist ein Weg, das zu tun, und es gibt Hoffnung.”