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„Wenn Krankenhäuser nicht erreichbar sind, sterben die Menschen zuhause“

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Albert Viñas

Albert Viñas

Ich bin Notfallkoordinator bei Ärzte ohne Grenzen und war bereits in fast 50 Einsätzen vor Ort im Einsatz.

Die Gewalt begann Anfang November 2020. Nach mehreren gescheiterten Versuchen konnten wir am 16. Dezember endlich mit einem ersten Team Mekele, die Hauptstadt der Region Tigray, erreichen.

Die Stadt war ruhig. Es gab zwar Strom, aber keine Grundversorgung. Das örtliche Krankenhaus war nur zu 30 bis 40 Prozent ausgelastet. In solchen Kontexten ist das ein sehr schlechtes Zeichen - es bedeutet, dass die Menschen es nicht zu den Einrichtungen schaffen.  

Geisterkrankenhäuser

Drei Tage später erreichten wir die Stadt Adigrat, die weiter nördlich liegt. Die Situation war sehr angespannt und das dortige Krankenhaus befand sich in einem schrecklichen Zustand: Das meiste medizinische Personal war nicht mehr da, es gab kaum Medikamente, keine Nahrungsmittel, kein Wasser und kein Geld. Einige Patient*innen, die mit schweren Verletzungen eingeliefert worden waren, waren mangelernährt. Also setzten wir gemeinsam mit dem verbliebenen Personal das Krankenhaus wieder instand und sorgten für Nahrungsmittel und Medikamente. 

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Ein geplünderter Raum im Krankenhaus in Adwa, Tigray.
Kein Strom, kein Wasser, kaum Personal - die Gewalt wirkte sich in hohem Maße auf die medizinische Versorgung der Menschen aus.
© Matt Hotchkiss/MSF

Am 27. Dezember trafen wir dann in Adwa und Axum ein, zwei Städten westlich von Adigrat, auf dem fruchtbaren Hochland in Zentral-Tigray. Dort fanden wir wieder eine ähnliche Situation vor: kein Strom und kein Wasser. Aus dem Krankenhaus in Adwa waren alle Medikamente entwendet worden, die Möbel und Geräte waren zerstört. In Axum war das Universitätskrankenhaus mit 200 Betten zwar nicht angegriffen worden, aber nur zu 10 Prozent ausgelastet. 

Trotz der weiterhin schwierigen Sicherheitslage transportierten wir Lebensmittel, Medikamente und Sauerstoff zu diesen Krankenhäusern und begannen, die wichtigsten medizinischen Abteilungen - OPs, Entbindungsstationen und Notaufnahmen - zu unterstützen und kritische Fälle zu überweisen. 

80 bis 90 Prozent der Gesundheitszentren, die wir zwischen Mekele und Axum besuchten, waren nicht funktionsfähig - entweder aufgrund von Personalmangel oder wegen Raubüberfällen.

Tödliche Folgen

Das Krankenhaus in Adigrat ist die Anlaufstelle für mehr als eine Million Menschen, das in Axum für mehr als drei Millionen.  

Wenn diese Krankenhäuser nicht richtig funktionieren und nicht erreichbar sind, dann sterben die Menschen zu Hause.

Vor der Krise wurden im Krankenhaus von Adigrat pro Tag zwei Blinddarmoperationen durchgeführt - in den letzten zwei Monaten nicht eine einzige. Überall begegnete uns dasselbe Bild: Patient*innen, die spät und in sehr ernstem Zustand ankamen. 

Eine Frau hatte sieben Tage lang in den Wehen gelegen, ohne entbinden zu können. Sie überlebte, weil wir sie nach Mekele transportieren konnten.

Ist ein Gesundheitssystem kaputt, funktionieren auch wichtige Programme wie Impfungen, systematische Krankheitserkennung und Ernährungsmaßnahmen nicht. Seit fast drei Monaten wurden in der Region Tigray keine Impfungen mehr durchgeführt, weshalb wir befürchten, dass es bald zu Epidemien kommen wird. 

Hoffnung ist ansteckend

In den letzten Wochen haben unsere mobilen medizinischen Teams Gebiete außerhalb der großen Städte besucht und wir haben einige Gesundheitszentren wieder öffnen können. Unsere Anwesenheit bringt ein gewisses Gefühl von Schutz. 

Neben der medizinischen Hilfe geben wir den Menschen auch Hoffnung.

Einige Mitarbeiter*innen kehren in die Krankenhäuser zurück: Am ersten Treffen, das wir im Adwa-Krankenhaus organisiert haben, nahmen nur fünf Personen teil, aber zum zweiten kamen 15, und zum dritten schon mehr als 40 Personen. 

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Eine Frau mit einem Kleinkind erhält medizinische Versorgung an einer mobilen Klinik von Ärzte ohne Grenzen
Vor allem in ländlichen Gebieten ist es schwer alle Menschen zu erreichen, die Hilfe benötigen. Deswegen setzen unsere Teams mobile Kliniken ein.
© Konstantina Konstantinidou/MSF

Nachdem es zwei Monate lang keine guten Nachrichten gab, haben die Menschen langsam das Gefühl, dass sich die Dinge nun verändern könnten. 

Abgeschnitten

Wir sind sehr besorgt über die Verhältnisse in den ländlichen Gebieten. Große Teile von Tigray sind sehr gebirgig, mit kurvenreichen, steilen Straßen. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt sowieso schon in den Bergen und wir haben gehört, dass nun noch viele mehr vor der Gewalt in diese abgelegeneren Gebiete geflohen sind. 

Bislang konnten wir aber nur weniger Orte erreichen, zum einen, weil die Sicherheitslage es nicht zulässt, zum anderen, weil es schwer ist Reisegenehmigungen zu erhalten.  

Allen Widerständen zum Trotz

Dieser Einsatz war auf allen Ebenen - medizinisch, finanziell, logistisch und persönlich - titanisch. So etwas ohne Telefon und Internet zu stemmen ist eine riesige Herausforderung. 

Anfangs gab es keine Flüge nach Mekele und wir mussten alles, was wir brauchten, über Land aus Addis Abeba, der 1.000 km entfernten Hauptstadt Äthiopiens in die Region transportieren. Geldtransfers waren ebenfalls nicht möglich, weil die Banken geschlossen waren. Trotzdem haben wir es irgendwie geschafft, unsere Arbeit aufzunehmen. 

Wo ist die Weltgemeinschaft?

Jetzt, fast drei Monate nach Beginn des Konflikts, kommen nach und nach auch andere Organisationen in Äthiopien an. 

Ich bin erstaunt, wie schwierig es war - und immer noch ist -, Zugang zu Menschen zu bekommen, die derart Hilfe benötigen und in einem so dicht besiedelten Gebiet leben. In Anbetracht der Mittel und Analysekapazitäten, über die internationale Organisationen und die UNO verfügen, ist diese Tatsache ein Versagen der humanitären Welt.

Dass wir viele Menschen in Tigray noch immer nicht erreicht haben, bedeutet, dass wir die genauen Ausmaße der aktuellen Krise noch immer nicht kennen – aber es ist wichtig, dass wir es so schnell wie möglich herausfinden.